SCHWÄBISCHES TAGBLATT

Mutti, so kenn ich dich ja gar nicht!

Daniel Calls »Königin der Nacht«: eine gelungene Uraufführung an der Reutlinger Tonne

Der Dramatiker und Regisseur Daniel Call hat dem Ensemble der Tonne ein Opernmusical nach Mozarts »Zauberflöte« auf den Leib geschrieben. Heiner Kondschak mischt in seinen Arrangements das Altbekannte mit Jazz und Rock auf. Die Premiere am Donnerstag in der Planie war ein umjubelter Erfolg.

von ACHIM STRICKER

Reutlingen. Parodieren kann man die »Zauberflöte« nur zum Teil. Ist sie doch selbst über weite Strecken Parodie und Maskenspiel, wurzelt in der Altwiener Komödien-Tradition mit ihrem Stegreif-Klamauk und derb-obszönen Hanswurstiaden. Insofern stellt sich Daniel Call mit seiner »Zauberflöten«-Bearbeitung durchaus in eine Tradition.

Natürlich ist »Die Königin der Nacht« auch eine Parodie – und was für eine. Aber sie erschöpft sich nicht im Karikieren und Persiflieren. Eher könnte man sagen, Call und Kondschak erfinden die »Zauberflöte« noch einmal neu.

Stellenweise fühlte man sich an die kultgewordene »Freischütz«-Version »The black rider« von Bob Wilson, Tom Waits und William Burroughs erinnert. Hier geht es ähnlich schräg und respektlos zu. Und die alle Türen und Herzen öffnende Zauberflöte ist eine Trillerpfeife.

Zunächst tönt einem aber unvermutet Goethes »Faust« entgegen. Prolog nicht im Himmel, sondern an Mozarts offenem Grab. Nicht Mephisto und Gott wetten um Fausts Seele, vielmehr holen die höllenflammende Königin der Nacht und Gottvater Sarastro mit Goethe-Zitaten den armen Mozart aus dem Sarg, um ihn als Tamino durchs eigene Werk zu schicken: selber schuld. Galina Freunds Tamino weiß gar nicht, wie ihm geschieht, flieht vor gefährlichen Schlangen wie vor kussfreudigen Damen.

Damit beginnt ein zweistündiges Feuerwerk aus Situationskomik und Slapstick, grandios alberner Blödsinn auf höchstem Niveau und wie Mozarts »Zauberflöte« selbst ein Panoptikum aus heiligen Wahrheiten und derben Zoten.

Eric van der Zwaags Vogelfänger Papageno ist ein tuntiger Paradiesvogel, direkt dem Käfig voller Narren entstiegen. Zum Slow Waltz mit Saxophon singt er »Der Opernsänger bin ich ja« und »weiß an der Rampe rumzustehn«. Bis ihn am Ende Papagena (Heidrun Schweda) umpolt, weiß er nicht so recht, ob er sich ein »Männchen oder Weibchen« wünschen soll. Mit Pamina zankt er sich um Monostatos (Jan Paul Werge). Für jede Mozart-Inszenierung ist der laut Schikaneder-Text »hässliche Schwarze« eine peinliche Gewissensfrage – hier ist Monostatos der absolute Favorit.

Yvonne Lachmann spielt Pamina in gestelztem Honoratioren-Schwäbisch als wasserstoffblonde  Schwertgosch. Sarastro hat sie auf makrobiotische Kost gesetzt. Und auch sonst ist sie ziemlich auf Entzug. Und anstatt sie aus dem Umerziehungscamp zu befreien, drückt ihr die Königin der Nacht einen Dolch in die Hand. Pamina nach der Rachearie entsetzt: »Mutti, so kenn ich dich ja gar nicht!«

Rüdiger Götze gibt Sarastro als Tennisstar und Papst in Personalunion. Zum Peace-Song »In diesen heil´gen Hallen« dreht sich die Discokugel, Feuerzeuge werden geschwenkt.

Jede Figur ist für sich schon hinreißend komödiantisch, im Zusammenspiel potenzieren sie sich noch. Die vollkommen runderneuerten Sprechtexte allein wären schon ein Vergnügen, aber die gesanglichen Leistungen des Ensembles heben die Produktion weit über sich hinaus. Die ausgebildete Sängerin Rebekka Suninen lässt bei den Arien der Königin der Nacht samt allen Koloraturen und Spitzentönen nichts zu wünschen übrig. Die Terzette der drei Damen (Suninen, Lachmann, Schweda) brauchen sich neben keiner Opernproduktion zu verstecken.

Teils hat Kondschak die Nummern so transponiert und bearbeitet, dass jeder sich nach seinen besten Möglichkeiten zeigen kann. Auch die Vokalensembles, teils a cappella, sind tadellos sauber. Respekt. Ob Folksong, Blues oder Jazz: Für den richtigen Ton sorgte Heiner Kondschak mit seiner multi-funktionalen Band (Heike Rügert, Klarinette, Flöte, Saxophone; Bernhard Mohl, Geige, Bassgitarre; Jonathan Gray, Cello, Bassgitarre, Posaune).

Bis zum Finale gab es immer wieder stürmischen Zwischenapplaus und Bravo-Rufe. Mancher servierte sich gleich Karten für eine weitere Runde. Nur Tamino sah am Ende nicht so glücklich aus: Gerade hatte er das Schweigegelübde bestanden, das ihn auf den Ehealltag vorbereiten sollte, und ist erfolgreich in den »Bund der Allerwertesten« aufgenommen, wird er schon von seiner Pamina angeschnauzt: »Du haltsch dein Mund!« Es hat eben so seine Tücken, wenn man sich in ein bezaubernd sprachloses Bildnis verliebt.

Unterm Strich – Musikalisch wie schauspielerisch rundum geglückt. Mozart und Schikaneder hätten ihre Freude daran.

– 31. Oktober 2009


REUTLINGER NACHRICHTEN

Vom Guten, Schönen, Sonderbaren

In Daniel Calls Crossover aus Oper, Parodie, Faust und Trash finden Hochkultur und Volkstheater zusammen. Heraus kommt ein lustiger, im Vergleich zum Original, politisch fast korrekter Opern-Alptraum.

von KATHRIN KIPP

Reutlingen. Der Einzige, der sich nicht an diesem opulenten Kla- maukexzess beteiligt, ist ausgerechnet Chefdirigent Heiner Kondschak, der mit seiner Kapelle (Heike Rügert, Jonathan Gray) voll auf seriös macht. Während er noch seinem ersten und auch einzigen Geiger Bernhard Mohl standesgemäß die Hand gibt, trippelt auch schon die barockig ausstaffierte Bühnen-Belegschaft herein, mit Sarg im Rollgepäck. Sie stellt sich als freimaurerische Freistoß-Mauer auf, tut recht opernhaft, trauert um Mozart und streitet sich auch schon um dessen überirdischen Nachlass.

Sarastro und die Nachtkönigin wetten nämlich ganz faustisch um dessen Seele. Mozart hat deshalb als Tamino wieder aufzuerstehen und seinen selbst komponierten Opern-Alptraum zu durchleben. Galina Freunds Tamino ist dabei nicht gerade ein Musterknabe an Mut, Tapferkeit und geistiger Wachheit und kämpft sich deshalb eher verängstigt durch seine Schlangen- und Gesangsnummern: Leichtes Opfer also für die drei Damen, die ihn mit herzallerliebstem Gesang bezirzen – erfolglos: Tamino bleibt überfordert vom Leben und der Liebe, weshalb er auch ziemlich den Blues schiebt.

Von rechts wiederum schiebt sich ein ebenso orientierungsloser Indianer ins Bild, mit zwei kecken Federn, Sonnenbrille und No-Go-Outfit. Aber – „Hoppsassa, ein Opernsänger bin ich ja“ – es ist die flatterhafte Papageno-Parodie Eric van der Zwaags als tuntiger Geck, stets „lustig“ und „heiser“ und so hormongesteuerter Schwätzer wie geräderter Pfau. Aber Papageno will ja auch nur geliebt werden.

Schon die Zauberflöte von Schikaneder und Mozart war ein so buntes wie geheimnisvolles Konglomerat aus Märchen, Volkstheater und Oper. Und auch Calls Übersetzung ins Neudeutsche kommt als ein wildes Potpourri aus Parodie, Comedy, Faust-Zitat, Slapstick, Musical, Burleske, Klamotte und astreinem Opern- und Chorgesang daher – kurz: Auch hier begegnen sich Hochkultur und Quatschcomedyclub. Die aus der Gesangs-, Ton- und Schauspielbranche zusammengewürfelte Truppe könnte man sich genauso gut in Shakespeares Sommernachtstraum vorstellen, wie sie große Kunst, Parodie und ungezähmten Premium-Dilettantismus in einer Eins-a-Performance miteinander vereint.

Oper und Trash ergibt eine ziemliche Fallhöhe, aber trotz aller Albernheiten ist das Ensemble dieses Mal wirklich richtig lustig, weil eben nicht verkrampft komödienhaft, sondern verspielt ironisch: Eine Zauberflöten-Verballhornung, aber eine durchaus sinnige, auch wenn der tiefere Sinn, wie beim Original, verschlüsselt bleibt.

Auf jeden Fall geht es drunter und drüber in der Kostüm- und Requisiten-Orgie mit Bilderrahmen, Pustefix, wildem Getier und Sarastros Disco-Tempel, der solch edlen Tugenden wie Humanität und Freiheit Tür und Tor öffnet. Rüdiger Götzes Sarastro rollt als dekadenter Tennisstar durch seine heiligen Hallen und lässt sich von seinen Cheerleadern anhimmeln. Die Rollen unter den Requisiten bringen das Musical derweil gehörig in Fahrt. Echt abgefahren auch der effektvolle Auftritt der Königin der Nacht, die als Vier-Meter-Roll-Matrone so von sich eingenommen ist, dass sie sich selbst nicht bewegen kann: Ein Bild wie aus Becketts „Glücklichen Tagen“.

Rebekka Suninen singt diese temperamentvolle „Feuersbrust“ so ausgezeichnet, dass es bei der legendären Rache-Arie im Publikum ganz still wird vor Spannung. Die Opern-Kapelle wiederum funkt musikalisch mächtig dazwischen: mal mit einem russischen Reggae, mal mit Schlager, mal im Jungschar-Style, während sich das gloriose Opern-Comedy-Inferno sehr selbstironisch gibt mit überaus reflektierten Figuren, die sich ständig thematisieren und interpretieren: Papageno ist nur ein „Opfer der Umstände“, während Monostatos (Jan Paul Werge) mit seiner rassistisch gestalteten Rolle als grabschender Mohr und Pausenfüller sehr unzufrieden ist und gegen die plumpen Stereotypen genauso ankämpft wie Tamina (Yvonne Lachmann) als herzhafte Schwäbin – „Wer bin ich? Und wenn ja, weswegen?“ – gegen den sexistischen Gehalt des Originals. Mit Papagena (Heidrun Schweda) darf sie über die Männer und ihren „dämlichen Jungsclub“ ablästern, kommt dabei aber nicht über „Brigitte“-Weisheiten hinaus, während die Buben den Prüfungen des Lebens und der Liebe ausgesetzt sind, um am Ende fein Weis- und Weibheit zu erlangen. Das Publikum jedenfalls ist aus dem Häuschen.