Das Wort Dystopie erklärt sich laut Duden als „das Vorkommen von Organen an ungewöhnlichen Stellen“, qua „fiktionale, in der Zukunft spielende Handlung mit negativem Ausgang“. Im Grunde ist dies ein und dasselbe. Die Verschwörung ist eine Geschwulst, die sich überwiegend als bösartig herausstellt. Ihre Theorien sind buchstäblich so alt wie die Menschheit und greifen um sich wie Metastasen.
In der Betrachtung unerklärlicher Naturphänomene erdachten sich unsere Vorfahren Götter als Auslöser des Unfassbaren. Der Blitz, der Donner, der Wind – alles wurde einem übergeordneten Herren zugeordnet. Ebenso wie die trotz des wachsenden Verstandes verbliebenen Urinstinkte und sich herauskristallisierenden Emotionen. Im Polytheismus, der Mutter aller Verschwörungstheorien, hatte so ziemlich jede Handlung und Regung ihre eigene Gottheit. Das irdische Dasein spiegelte sich im Himmlischen, vice versa, wobei sich der Mensch in die Schuldlosigkeit retten konnte, da er schließlich fremdgesteuert war.
Wozu nun dieser Ausflug in die religiöse Historie?
Tatsächlich haben Glaubens- und Verschwörungsthesen dieselben Wurzeln. Die Vermutung wird zum Wissen erklärt. Das Einzelwesen überantwortet sich einer höheren Macht, die einfache und einleuchtende Antworten parat hält.
Im Zuge der Aufklärung und des Merkantilismus, der zunehmenden Individualisierung des Menschen, verloren die Kirchen in verschiedenen Teilen der Welt an Macht. Und auf genau dieses Vakuum zielen die Dystopien.
Ein Hitler kam nicht zuletzt wegen der Behauptung einer jüdischen Weltverschwörung an die Macht, ein Orban mit der Dämonisierung von George Soros. Belege für das zionistische Streben nach globaler Herrschaft gibt es nicht. Aber die braucht es auch nicht. Sie würden voraussetzen, dass der Mensch die Vernunft als Teil des Verstandes aktiviert, was seiner prinzipiellen Trägheit nicht gerade entgegenkommt.
Über Jahrzehnte hinweg galten die Verschwörungstheorien als drolliger Loser-Abfall der Wohlstandsgesellschaft. Die Aliens in Roswell, die Kornkreise, der Milleniums-Weltuntergang, selbst der architektonisch vorbereitete Einsturz der World-Trade-Center wurden achselzuckend wahrgenommen, die Agitatoren jener steilen Thesen belächelt.
Jedoch mit dem Siegeszug des Internet bündelte sich fast unmerklich eine bedrohliche Machtergreifung der Dystopen, die ihre ersten merklichen Auswirkungen im Zuge der Flüchtlingskrise zeitigte. In Tagen also, als die Faschisten in der westlichen Welt mehr und mehr Macht erlangten.
Dabei gehörte das Gerücht von den als Reptiloiden getarnten Machthabern noch zu den Harmloseren – ebenso wie das der Erdscheibler, die der Welt nach wie vor die Kugelform absprechen und ihr Heil in unterirdischen Städten suchen, wo sie vor den alle Sinne vernebelnden Chemtrails – Produkte der Kondensstreifen von Flugzeugen – sicher sind.
Mit der Wahl Trumps zum Führer der westlichen Welt wurde dem denkenden Mitteleuropäer spätestens klar, dass der kulminierende Verschwörungswahnsinn eine elementare Bedrohung der freien Gesellschaft darstellt. Denn Trump ist ein Lügner, über 20.000 während seiner ersten Amtszeit wurden ihm jüngst nachgewiesen. Und er schürt jedweden Verschwörungs-Bullshit, den er sich zunutze machen kann.
Dann kam Corona.
Der Verschwörer existiert in Echoräumen – also Bereichen, wo er keine Stimme wahrnimmt als die seine und die einen Dialog simulieren. Das Netz ist voll von diesen selbstbestätigenden Echoräumen – die liebste Plattform der Erkenntnisreichen ist unterdes Telegram.
Speerspitze der Kabale witternden, selbst ernannten Querdenker ist zweifellos Kuschelbarde Xavier Naidoo. Bereits 2012 wurde der sich zunehmend ins Evangelikanische verschwurbelnde Minnesänger mit seinen homophoben Texten auffällig. Da nämlich ließ er sein „Lied vom Leben“ vom Stapel, einen Schlager mit Textzeilen wie folgt: „Ich schneid‘ euch jetzt mal die Arme und die Beine ab, und dann ficke ich euch in den Arsch, so wie ihr es mit den Kleinen macht. Ihr tötet Kinder und Föten. Ihr habt einfach keine Größe und eure kleinen Schwänze nicht im Griff. Warum liebst du keine Möse, weil jeder Mensch doch aus einer ist?“.
Zumindest an seiner Gesinnung wie auch seinem lyrisch tiefgelegten Talent ließ der Schnulzeninterpret keine Zweifel.
Durch Auftritte bei den Reichsbürgern in Ungnade gefallen, ließen die ÖR-Medien ihn fallen. Unerklärlicherweise verhalf ihm ausgerechnet RTL zu einem Revival als DSDS-Juror. Unerklärlicherweise, weil RTL zwar zweifellos ein Schundkanal ist, sich jedoch stets von Homophobie, Rassismus und Antisemitismus abgrenzte. Und dass Naidoo von Juden wenig hält, ließ sich in dem Text seiner 2009 erschienenen Minne „Raus aus dem Reichstag“ bereits heraushören. Da heißt es „Der Schmock ist’n Fuchs und ihr seid nur Trottel“. Warum ihn die ARD zum ESC schicken wollte und der zur RTL-Familie gehörende Sender VOX mit der Moderation von „Sing meinen Song“ trotzdem ein Forum boten, bleibt ein Rätsel, das wohl bloß mit der Blödheit der zuständigen Redaktionen zu erklären ist.
Während des Corona-Lockdowns jedenfalls hatte der farbige Faschist viel Zeit und outete sich als Sprecher der weltführenden Verschwörungsbewegung QAnon, einer, natürlich aus den USA stammenden, Plattform für wirklich fassungslos machende Thesen, wie und warum sich Juden, Homos und Eliten diesen Planeten gefügig machen. Die derzeit beliebteste, zur Wahrheit erklärte Theorie besagt, dass die Machthabenden kleine Kinder entführen, deren Blut trinken, sie in Gladiatorenkämpfe schicken, deren Verlierer sie verspeisen. Am 3. April diesen Jahres erklärte Naidoo auf Youtube tränenreich, dass die Kinder befreit wurden und sein 24 Jahre währender Kampf gegen die internationale, unterirdisch stattfindende Pädophilie nun endlich die Fakten ans Tageslicht befördert hätte.
Man möchte lachen, wenn es nicht so gefährlich wäre. Mit Naidoo, Attila Hildmann und Ken Jebsen hat sich nämlich ein Triumvirat an die Spitze des verheerenden Irrsinns gestellt, das laut klappernd zum Terrorismus gegenüber Minderheiten aufruft. Wobei sie doch eigentlich, allesamt mit Migrationshintergrund, selbst einer der Minderheiten angehören, die sie so sehr verachten.
Natürlich – Dystopen sind unerträgliche Jammerlappen, saudumme Verlierer, weinerliche Ewiggestrige. Der Autor dieser Zeilen hatte das zweifelhafte Vergnügen,– er war jung und brauchte das Geld – Naidoo kennenlernen zu müssen und kann bestätigen, dass unter seiner Schädeldecke statt Hirnmasse eingeweichte Semmeln gelagert werden. Aber das hilft ja nichts. Die jede Vernunft negierende Dummheit ist und bleibt das größte Problem unserer Gattung. Solange wir diesen Konflikt nicht in den Griff bekommen, ist der endgültige Schritt von der Kreatur zum Menschen nicht vollzogen.