Des Menschen größter Segen ist zugleich sein schlimmster Feind: Sein Verstand. Sein Vorwärtsdrängen, sein Streben nach Forschung und Erkenntnis. Wie sonst ist es zu erklären, dass sich der Autor dieser Zeilen freiwillig und offenen Auges einem grausamen, widerwärtigen Experiment unterzog, dessen Langzweitwirkung auf das Testsubjekt völlig unberechenbar ist. Nichts scheint ausgeschlossen. Es kann, machen wir uns nichts vor, zum Äußersten kommen, zu Suizidversuchen, Kannibalismus, Nachbarschaftsbeschimpfung gar.
Ich setzte mich vier Tage lang dem linearen Fernsehen aus.
Heute endete das Schreckensexperiment mit Trumps Rede zur Lage der Nation. Womit es begann, ist leider verschwommen. Irgendwas am Samstag. „Shopping Queen“, „Sportschau“ –ich weiß es nicht. Denn gewisse Grundvoraussetzungen müssen ja für einen solchen Selbstversuch erfüllt sein:
- Temporäre geistige Umnachtung
- Wehrlosigkeit
- Geringe Aufmerksamkeitsspanne (maximal 15 bis 20 Minuten)
Diese drei Symptome ereilen mich zeitgleich in der Nacht von Freitag auf Samstag, als sich ein grippaler Infekt seine Schneise bricht und mich mit ungewohnter Nachdrücklichkeit in die Horizontale befördert. Tatsächlich hat’s mich seit Jahren nicht mehr so erwischt. Und auch nur so ist es zu erklären, zu entschuldigen, zu rechtfertigen, dass ich mich nicht an Netflix klammere, keinen anderen Streamingdienst als Hort der Rettung aufsuche, sondern über Tage in der Gülle des ÖR und Privat-TVs treibe: Zunächst geht es mir zu beschissen, um mich für irgendwas zu entscheiden und ich lasse die Glotze laufen, danach hat sie mich in Geiselhaft genommen.
Vieles ist nur noch bruchstückhaft vorhanden – im Fieberdelirium aufgeschnappter, unverdaulicher Wortkot. Ein Werbespot hat sich eingebrannt – „Von Bohlen empfohlen“ – eine eindringliche Empfehlung, etwas nicht zu kaufen.
Überhaupt, Bohlen – treibt der sich da nicht in einem Affenkäfig herum, umkränzt von einer Prostituierten, einem Geisteskranken und einem farbigen Reichsbürger mit Pornobrille? Belustigt von einem asigen Haufen rappender Spasten, die ihre Innereien mit ekliger Wonne nach außen stülpen? Nein, das ist zu sehr Frances Bacon, das ist reiner Fieberwahn.
Ganz zu schweigen von dem friesischen Storch mit Hornbrille und ulkigem Vorbiss, der Fragen von Karten abliest und es nur mühsam schafft, dabei die Spannung einer Mittsommernacht auf Spitzbergen aufzubauen. Handelt es sich dabei um Moderationsmull Pilawa, Allzweckwaffe für jedwede Samstagabendtötung? Alles ist Fieberhölle und es brennt ganz grausam.
In den klopfenden Schädel stampft eine Mammutherde mit Mühlsteinen im Schlepptau. Ist der Klimawandel so weit fortgeschritten, dass sich nun die Karies der Steinzeit löst und aufgetaut durch dem Sonntagnachmittag taumelt? Oder handelt es sich um die jährliche Biggest-Loser-Parade, die, mit LKW-Reifen vertäut, den spanischen Strand abträgt? Und welch mürrische Dramatik schäumt da wie Giftmüll vom Teichesgrunde auf – bin ich wirklich in die Klauen der sterbenden Lindenstraße geraten, die alles noch Lebenswerte mit sich in den Abgrund reißen will? Wer ist die stoische Miesgelaunte, die da gummibestiefelt im Sonntagabendwatt feststeckt? Handelt es sich um einen Einschläferungsversuch per Maria Furtwängler? Ja, ermittelt die denn immer noch? Und warum ausgerechnet gegen mich?
Es gibt keine Tages- und Nachtzeiten mehr, keine Zustände, keine Befindlichkeiten. Alles ist ein linear-terrestrischer, amorpher Brei. Irgendwo ploppen Textaufsager wie die Pusteln einer Gürtelrose auf, scheiternde Auswanderer und der Currywurst-Chris, der Start-uppern vermittelt, wie man binnen 90 Tagen in den USA zu Erfolg gelangt – also zu dem, was ihm, gemessen an der hiesigen TV-Präsenz, nicht vergönnt war.
Es ist ein strudelnder Wirbel, ein wirbelnder Strudel – manchmal fällt man in Sekundenschlaf, dann ist man wieder stundenlang weg vom Fenster, aber es will nichts besser werden. Junge Leute improvisieren wildes Großstadtleben – „Hey, sollen wir draußen ein Feuer machen?“ „Ist doch Winter!“ „Egal, wir sind wir.“ „Geile Idee!“ – lebe ich noch, und wenn ja, weswegen? Vor allem, wo? Bin ich schon so alt. Oder im pränatalen Stadium? Es werden Kochtöpfe geschwungen und Lachsfilets verpackt, Lanz kriecht in Gäste und entlockt sich deren gewünschte Antworten, aus einer Fischroulade quetscht sich Trumps Schädel hervor und grimassiert pathetisch eine Rülpsorgie, die er mit der Rede zur Lage der Nation verwechselt. Mein Finger zuckt, erreicht einen Knopf der Fernsteuerung, und es ertönt der erlösende Eingangsjingle von Netflix.
Es wird Licht, der Himmel reißt auf, die Sonne scheint. Ich atme, es fällt noch schwer, aber wenigstens ist wieder eine Zigarette drin. Ich dachte schon, das wäre es gewesen. Ich dachte schon, ich sei in der Hölle gelandet. Ich weiß jetzt, dass es sie noch gibt. Mit oder ohne Werbeunterbrechung. Ich hatte sie schon fast vergessen. Das sei mir eine Mahnung.
Das Leben ist schön.